Sich auf sein Ziel fokussieren – kaum jemand macht das buchstäblich häufiger als ein Sportschütze. Als Spitzensportler hat man ein- bis zweimal im Jahr die Chance, sein Bestes zu zeigen. Unzählige Trainingslektionen liegen hinter einem, um am Tag X abliefern zu können.
Bank Cler – bei uns ist der Name Programm. Cler bedeutet einfach, klar und deutlich. In der aktuellen Ausgabe unseres Magazins blu widmen wir uns auf vielfältige Weise dem Thema Klarheit.
Mein Schussablauf sieht immer genau gleich aus – denn ich versuche, jedes Mal die genau gleiche Routine einzuhalten: Ich lege die Kugel in den Gewehrlauf, lade das Sportgewehr, nehme immer vier Atemzüge, sammle mich mental, höre in meinen Körper hinein und achte darauf, dass mein ganzer Körper möglichst stabil wird. Dann fokussiere ich das Ziel visuell und bewege das Gewehr in die Mitte der Zielscheibe, um schliesslich einen möglichst ruhigen Schuss abzugeben.
Dieser ganze Ablauf sollte so routiniert sein, dass der Moment der Schussabgabe instinktiv erfolgt. Und darauf muss ich vertrauen. Man kann das Sportgerät nie absolut stillhalten. Wenn ich versuche, den perfekten Moment bewusst zu erwischen, bin ich zu langsam. Bei uns sind Zehntelmillimeter entscheidend. Bis das Signal vom Auge über das Hirn im Finger ankommt und der Schuss die Mündung verlässt, wäre ich bereits nicht mehr perfekt im Scheibenzentrum.
Von meinen 60 Schüssen sollte ich idealerweise 58–60 in den Zehnerkreis treffen. Verfehle ich mein Ziel, steigt der Druck, weil ich weiss, der nächste Schuss muss sitzen. Ich versuche zu verstehen und zu analysieren, warum der Schussablauf nicht perfekt war. Im Laufe meiner Sportkarriere habe ich gelernt, tief durchzuatmen und meine Emotionen wahrzunehmen. Denn Emotionen sind immer da – deshalb muss man einen positiven Umgang mit ihnen finden und sie zielgerichtet einsetzen.
«Als Sportschütze versuchst du, in eine Art Flow-Zustand zu kommen und diesen beizubehalten. In diesem Zustand sind wir körperlich entspannt, aber geistig total präsent.»Christoph Dürr
Ich bin völlig abgeschottet, wie in einem Tunnel. Als Sportschütze versuchst du, in eine Art Flow-Zustand zu kommen und diesen beizubehalten. In diesem Zustand sind wir körperlich entspannt, aber geistig total präsent. Dieser Zustand ist das Ideal, aber gleichzeitig auch anstrengend. Deshalb gilt es, zwischendurch kurz durchzuatmen und den Fokus zu öffnen, um anschliessend wieder entspannt in den Flow-Zustand zu gelangen.
Ich versuche nicht, bewusst etwas auszublenden, sondern ich konzentriere mich ganz bewusst auf etwas. Das ist ein Unterschied. Unser Gehirn hat nur eine gewisse Kapazität, alles, was diese überschreitet, wird automatisch ausgeblendet. Wir Menschen können nicht bewusst ausblenden. Das ist, wie wenn ich mir sage: «Denke nicht an graue Mäuse.» – dann denke ich automatisch an graue Mäuse. Wir müssen uns stattdessen die Frage stellen «Was will ich?» und nicht «Was will ich nicht?». Je genauer ich weiss, was ich möchte, umso besser kann ich darauf fokussieren.
Selbstgespräche haben viel Potenzial und einen grossen Stellenwert in unserem Sport. Um mich selber optimal zu steuern, sage ich mir repetitiv einzelne Wörter vor. Diese variieren je nachdem, was ich gerade brauche. Jedes Wort ist dabei sehr eng mit einem Gefühl verknüpft. Zum Beispiel das Wort «stabil». Ich versuche dann, dieses Wort zu fühlen, sodass ich während der Schussabgabe möglichst stabil stehe. Oder wenn ich nervös werde – das geschieht meist, wenn ich im Final bin und warten muss, bis ich wieder an der Reihe bin –, sage ich zu mir «Ruhig!», wenn ich mich motivieren muss «Let’s go!».
«Ich war damals 12 Jahre alt und schaute am Fernseher die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Peking. Als die Schweizer Delegation ins Stadion einlief, dachte ich: «Wow, da würde ich gerne mal dabei sein!»»Christoph Dürr
Mein Vater war bereits im Schützenverein. Als Bub habe ich ihn oft begleitet und zugeschaut, bis ich im Alter von 10 Jahren selber mit dem Sport begonnen habe. Ein Moment, der mich sportlich sehr inspirierte, war 2008. Ich war damals 12 Jahre alt und schaute am Fernseher die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Peking. Als die Schweizer Delegation ins Stadion einlief, dachte ich: «Wow, da würde ich gerne mal dabei sein!» Das war aber nur ein Wunschgedanke und noch nichts Konkretes.
Über die Jahre realisierte ich, wie viel Freude mir der Sport bereitet und dass wohl auch ein gewisses Talent da ist. Als ich in die Junioren-Nationalmannschaft aufgenommen wurde, wurde aus meinem Wunschgedanken eine Vision. Während der Spitzensportrekrutenschule 2015/2016 in Magglingen begann ich, gezielt auf die Olympischen Spiele hinzuarbeiten, und die Vision wurde immer mehr zum konkreten Ziel. Mit meinem Durchbruch 2023 an die Weltspitze (Silber im Mixed und 5. Rang Einzel an der WM) und der definitiven Selektion für das Olympiakader im Juni 2024 wurde die Vision schliesslich zur Realität.
Ich frage mich am Morgen nach dem Aufstehen: «Was ist mein Antrieb, meine Intention heute? Was motiviert mich, diesen Leistungssport jeden Tag aufs Neue auszuüben?» Und dann setze ich mir Ziele, die an diesem Tag erreichbar sind. Für die langfristige Zielplanung verschaffe ich mir Klarheit über meine Zukunft, indem ich mich frage: «Was ist meine Vision, was sind meine Träume? Auf was möchte ich einmal stolz zurückschauen?» Dabei lasse ich meinen Gedanken freien Lauf. Und dann werde ich konkret und setze mir Zwischenziele bis in die Gegenwart – die, wenn alles nach Plan läuft, mich meiner Vision Stück für Stück näherbringen.
Ich sehe es als Privileg, dass ich diesen Sport, den ich liebe, auf diesem Niveau ausüben kann. Dafür gebe ich ein gewisses Commitment ab. Spitzensport zu machen, heisst, vor allem Prioritäten zu setzen und gute Routinen zu schaffen. Da erlaubt es dir der Spitzensportalltag nicht, beliebig «auszubrechen». Du planst im 4-Jahre-Rhythmus und weisst, wie dein Leben für die nächste Zeit aussehen wird. Aber trotz aller Planung bringt das Leben meist die eine oder andere Überraschung mit sich. Deshalb gestalte ich meine Fernziele in der Regel noch gar nicht allzu konkret aus, sondern sehe diese als eine Art Nordstern. So bleibt die nötige Flexibilität.
«Je früher ich merke, dass ich nicht mehr fokussiert bin, desto früher kann ich mich wieder auf Kurs bringen.»Christoph Dürr
Damit ich als Athlet den Faden nicht verliere, setze ich mir für jeden Tag ein paar Prioritäten wie z.B. ein konkretes technisches Element, das ich verbessern möchte, oder eine Trainingseinheit (Technik, Physis, mental usw.), die heute qualitativ speziell gut sein soll. Am Abend lasse ich dann während fünf bis zehn Minuten den Tag Revue passieren. Ich frage mich dabei: «Habe ich meine Prioritäten berücksichtigt? Habe ich mich heute meinem Ziel angenähert? Bin ich einen Schritt weitergekommen?» Oft merkt man ja gar nicht, dass man abgelenkt ist. Je früher ich merke, dass ich nicht mehr fokussiert bin, desto früher kann ich mich wieder auf Kurs bringen.
Bei Spitzensportlerinnen und -sportlern spricht man immer viel von der Charaktereigenschaft der Disziplin. Aber ich finde, es ist sehr einfach, diszipliniert zu sein und die Extrameile zu gehen, wenn du etwas gerne machst. Vielleicht ist eine Stärke von mir, dass ich mich und meine Leistung beim Schiessen immer wieder genau reflektiere und versuche, meine Gedanken und Emotionen zu verstehen. Beides sind Werkzeuge, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Manchmal verlieren wir aber unter Druck oder im Stress unbewusst unser eigentliches Ziel aus den Augen und lassen uns dann durch die Emotionen vom eigentlichen Ziel abbringen. Das Reflektieren hilft mir, aus solchen Momenten zu lernen und beim nächsten Mal eine solche Situation früher zu erkennen und meine Gedanken und Emotionen zielführend einzusetzen, um dann unter verschiedenen Situationen mein Optimum zu liefern. Beispielsweise haben wir im Training schon mal in einem fast komplett dunklen Raum trainiert. Die einzige Lichtquelle war ein Teelicht. Mein Gehirn bekam keine visuellen Reize von aussen. Ich konnte mich nur auf mein Ziel fokussieren und musste fast blind auf mein Gefühl vertrauen.
Nebst den eigenen Stärken, die einen weiterbringen, ist auch das Umfeld entscheidend. Nur mit genügend Zeit, der benötigten Infrastruktur oder dem passenden Material kann ich meine Stärken einsetzen, um das machen zu können, worin ich gut bin.
«Manchmal verlieren wir aber unter Druck oder im Stress unbewusst unser eigentliches Ziel aus den Augen und lassen uns dann durch die Emotionen vom eigentlichen Ziel abbringen.»Christoph Dürr
Was ich an meiner Sportart schätze, ist, dass letzten Endes praktisch alles von mir selbst abhängt. Ich erhalte unmittelbar eine ehrliche Antwort auf meine eigene Leistung. Doch obwohl der Schiesssport am Schiessstand eine Einzelsportart ist, glaube ich, dass der Schlüssel zum Erfolg auch hier im Team liegt. In der Trainingsgruppe sind wir wie eine kleine Familie.
Im Training ist man nicht immer gleich motiviert. Wenn man dann zwei, drei Kolleginnen und Kollegen hat, die mit dir die Extrameile gehen, hilft das sehr. Wir teilen unsere Erfahrungen und profitieren gegenseitig von unseren Learnings. Wenn daraus dann besondere Momente hervorgehen, wie zuletzt an den Olympischen Spielen in Paris, als meine zwei Teamkolleginnen Chiara Leone und Audrey Gogniat eine Gold- und eine Bronzemedaille gewonnen haben und der Rest des Teams spontan entschieden hat, extra sechs Stunden nach Paris zu fahren, um gemeinsam ebendiesen Moment mit uns allen zu feiern, ist das schon sehr grossartig.
Wenn ich mir zu diesen drei Fragen Klarheit verschaffe, habe ich gute Karten, dass meine Vision Realität wird und ich dabei glücklich bin.
Vielen Dank für das Interview, Christoph!
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