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Zeit, über Geld zu reden.

«Die Romantik war temporärer Natur»

Mancherorts hat das Mantra «Bleiben Sie zu Hause» der Natur zu Verschnaufpausen verholfen. Dafür haben Wilderer und Abholzbetriebe in anderen Breitengraden zugeschlagen, weil Kontrollen ausblieben. WWF-Schweiz-Chef Thomas Vellacott kommentiert, wie sich das Coronavirus auf die Umwelt auswirkt.

Thomas Vellacott, wie fühlen Sie sich, wenn Sie heute in die Welt blicken?

Ich erlebe diese Tage als sehr intensiv. Vieles ist in Bewegung. Angesichts von Krisen wie der Coronapandemie, dem Klimawandel und dem Schwund der Biodiversität ist der Handlungsbedarf dringender denn je. Gleichzeitig erlebe ich, wie sich Menschen engagieren wie nie zuvor.

Im Schatten von Corona zeichneten sich mancherorts fast romantische Bilder ab: Sicht auf Berge aus Megametropolen, keine Flugzeugspuren am Himmel. Wie beurteilen Sie den Effekt der Pandemie auf die Umwelt?

Die Romantik war temporär. Vielerorts ist der Druck auf die Natur gestiegen. Zum Beispiel nahm die Wilderei zu, weil im Lockdown weniger Ranger patrouillierten. Corona verdeutlicht, wie stark unsere eigene Gesundheit mit jener des Planeten verbunden ist. Die Häufung von Zoonosen – sprich von Krankheiten, die von Wildtieren auf Menschen überspringen – kommt daher, dass wir immer mehr in die Lebensräume von Wildtieren eindringen. Die Krise kann aber auch ein Katalysator sein, der Veränderungen anstösst oder beschleunigt. Wenn ein kleines Virus die Welt derart stilllegt, geschieht auch etwas im Kopf. Wir sehen in Echtzeit, wie fragil unsere Weltwirtschaft tatsächlich ist. Das zwingt uns, neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Viele Menschen setzen sich mittlerweile bewusster mit ihrem Verhältnis zur Natur auseinander.

«Wir brauchen nicht einen einmaligen, pandemiebedingten Rückgang der CO2-Emissionen, sondern einen tiefgreifenden Wandel.»

Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung sagt, dass kein anderes Ereignis zu einer solchen Senkung von CO2-Emissionen geführt habe – nicht mal die Ölkrise der Siebzigerjahre. Rückt die «klimaneutrale» Schweiz in Griffnähe?

Wir brauchen nicht einen einmaligen, pandemiebedingten Rückgang der CO2- Emissionen, sondern einen tiefgreifenden Wandel, damit die Emissionen Jahr für Jahr zurückgehen. Da sind wir leider noch weit von unseren Zielen entfernt. Aber der Wandel hat begonnen: So sind beispielsweise die Kosten für Solarenergie in den letzten zehn Jahren um über 80% gefallen. Zudem verpflichteten sich in den letzten Monaten mehr Staaten zu dem Netto-Null-Ziel: die EU, China, Südkorea und Japan. Und die USA schlossen sich wieder dem Pariser Klimaabkommen an. Mit dem CO2-Gesetz macht die Schweiz einen wegweisenden Schritt. Klimaschutz ist nicht eine Frage der politischen Couleur. Hier braucht es das Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – wenn wir die Kurve kriegen wollen.

Wegen weniger Kontrollen sind die Regenwaldflächen in Lockdownzeiten überdurchschnittlich geschwunden. Ist die «grüne Lunge» der Erde bedrohter als je zuvor?

Ja – allerdings nicht erst seit letztem Jahr. Laut einer WWF-Studie verschwanden im letzten Jahrzehnt überdurchschnittlich viele Tropenwälder. In 24 von Entwaldung besonders stark betroffenen Gebieten wurden in den Tropen und Subtropen 43 Millionen Hektaren Wald zerstört. Das entspricht zehnmal der Grösse der Schweiz.

Ein Grossteil der Waldvernichtung geht auf das Konto der kommerziellen Landwirtschaft, die zusätzliche Weide- und Ackerflächen für die Nahrungsmittelproduktion schuf. Zu diesem Ergebnis kommt die vom WWF veröffentlichte Studie «Entwaldungsfronten – Ursachen und Gegenmassnahmen in der sich verändernden Welt». Die Schweizer Behörden und Unternehmen tragen eine grosse Verantwortung für den Waldschutz. Denn Schweizer Importe treiben die globale Abholzung stark voran. Für den Anbau von Kakao, Palmöl und Kaffee wird oft Wald vernichtet. Wir fordern Konsumentinnen und Konsumenten deshalb auf, sich für umweltverträglicheres, nachhaltiges Essen zu entscheiden. Den mächtigsten Hebel sehen wir allerdings bei der Politik. In den internationalen Handelsbeziehungen braucht es verbindliche Sozial- und Umweltstandards.

«Onlinehändler müssen sich ihrer Verantwortung bewusst werden und ihre Geschäftsmodelle umweltverträglich gestalten.»

Zu den wirtschaftlichen Gewinnern im vergangenen Jahr zählt der Onlinehandel. Wie beurteilen Sie den Trend zur «Retouren»-Ökonomie?

Der Onlinehandel ist aus Umweltsicht mit denselben Herausforderungen konfrontiert wie der konventionelle Detailhandel: Produkte sollten möglichst umweltfreundlich und sozialverträglich hergestellt werden. Die grössten Auswirkungen auf die Umwelt entstehen nämlich bei der Fabrikation.

Hinzu kommen die Besonderheiten des Vertriebskanals, «online». Sie wirken sich positiv oder negativ auf die Umwelt aus. Die Option, alles gratis zurücksenden zu können, führt tendenziell zu vielen unnötigen Transporten. Obendrein verbrennen Onlinehändler die Retouren vielfach. Wenn die Menschen aber weniger mit dem Benziner zum Einkaufen fahren, reduziert dies umgekehrt die Emissionen des Individualverkehrs. Wichtig ist nun, dass sich Onlinehändler ihrer Verantwortung bewusst werden und ihr Geschäftsmodell umweltverträglich gestalten.

Carsharingmodelle und der öffentliche Verkehr haben aus virologischer Sicht nicht die beste Presse. Ärgern Sie sich darüber?

Nein. Solange wir virusbedingt generell weniger Kilometer zurücklegen, sinkt der Verkehrsfussabdruck. Viel relevanter ist, wie sich effizientere Verkehrsmittel künftig durchsetzen. Wir befinden uns in einer rasanten Elektrifizierungswelle: Letztes Jahr stieg der Absatz elektrisch betriebener Fahrzeuge weltweit um 28%. Zugleich steigt die Auswahl an kleineren und günstigeren E-Autos. Wenn ich mich über etwas ärgere, dann über tonnenschwere SUV, in denen nur gerade der Lenker sitzt – und darüber, dass die Schweiz die klimaschädlichsten Neuwagen von ganz Europa auf die Strasse stellt.

Von einem der grössten «Klimasünder» ist kaum je die Rede: der internationalen Transportschifffahrt! Sehen Sie in unserer globalisierten Welt eine Lösung für dieses Problem?

Heute verursacht die internationale Schifffahrt enorme Mengen an Schwefeldioxid und anderen Luftschadstoffen. Zudem verschmutzt sie die Weltmeere. Ihre Treibhausgasemissionen werden obendrein keinem Land zugerechnet, weshalb sich niemand verantwortlich fühlt. Das macht die Hochseeschifffahrt in der Tat zu einem schwierigen Problem. Müssten wir die wahren Kosten des Transportes bezahlen, ginge die Transportmenge schlagartig zurück. Wichtig zu wissen: Technisch ist es bereits möglich, wesentlich sauberere Schiffsantriebe zu verwenden. Erfreulicherweise kommt Bewegung in den Sektor: So setzte sich beispielsweise AP Moller Maersk, das Unternehmen mit der weltweit grössten Flotte von Containerschiffen, das Ziel, seine CO2-Emissionen bis 2050 auf netto null zu reduzieren.

Riskieren wir mit Massnahmen zur Treibhausgasreduktion nicht, dass unser Wirtschaftsmotor ins Stocken gerät?

Mit der Reduktion von Treibhausgasemissionen leistet die Schweiz einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz. Darüber hinaus lassen sich damit erhebliche Kosteneinsparungen erzielen. Auf Elektroautos umsteigen, Solaranlagen und Wärmepumpen installieren, Gebäude sanieren – wenn wir nur schon dort erneuerbare Energien wählen, wo ein Ersatz ohnehin fällig ist, kann die Schweiz im Jahr 2030 knapp eine Milliarde Franken und zusätzlich 13,6 Millionen Tonnen Treibhausgase sparen. Clevere Massnahmen zu ergreifen, ist rentabel, abwarten wird teuer und riskant. Unsere Wirtschaft muss die Abhängigkeit von Öl-, Gas- und Kohleimporten reduzieren.

Als Ex-Banker kennen Sie sich mit dem Finanzplatz aus. Der Bundesrat definierte 2020 das Ziel, die Schweiz als führenden Standort für nachhaltige Finanzdienstleistungen zu positionieren. Sind wir da gut unterwegs?

Der Schweizer Finanzplatz spielt mit über 6 200 Milliarden Franken an verwalteten Geldern international in der «Champions League». Hinzu kommt, dass die Schweiz einige Finanzinstitute beherbergt, die schon sehr früh auf Nachhaltigkeit setzten. Insgesamt verfügt die Schweiz über ausgezeichnete Voraussetzungen, um sich als führenden Finanzplatz für nachhaltige Finanzdienstleistungen zu positionieren. Was allerdings fehlt, sind klare Ziele, eine ambitionierte Strategie und konkrete Massnahmen, die von allen Akteuren mitgetragen werden. Aus Sicht des WWF sollten bis spätestens 2050 alle Schweizer Finanzflüsse zu Netto-Null-Treibhausgasemissionen und zur Wiederherstellung der biologischen Vielfalt beitragen. Um dies zu erreichen, müssten wir ab 2030 alle neuen Finanzflüsse auf dieses Ziel ausrichten. Davon sind wir noch weit entfernt.

Dachten Sie aus Umweltschutzgründen schon daran, mal einen «Lockdown» zugunsten der Natur zu verordnen?

Nein. Wir sollten die aktuelle Krise nutzen, um Fehler zu korrigieren. Packen wir die Chance zu einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel, braucht es keine weiteren «Lockdowns». Unser Ziel ist, die Schweizer Wirtschaft und Gesellschaft vor 2040 auf netto null Emissionen zu bringen.

Was kann jeder Einzelne unternehmen, um seinen ökologischen Fussabdruck zu verkleinern?

Es gibt eine Vielzahl sinnvoller Schritte, die so individuell sind wie der eigene Lebensentwurf. In vier Bereichen ist die Wirkung besonders gross: Mobilität, Wohnen, Essen und Investieren. Der WWF-Footprint-Rechner auf unserer Website hilft dabei, konkrete Massnahmen zu identifizieren, während unsere Tipps und Ratgeber bei der Umsetzung helfen.

Thomas Vellacott (50) ist Geschäftsführer des WWF Schweiz.
Zuvor arbeitete er im Private Banking einer Grossbank sowie als Berater bei McKinsey. Er studierte Arabistik, Internationale Beziehungen und Betriebswirtschaft und ist seit 42 Jahren WWF-Mitglied.