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«Erfolg ist kein Selbstläufer»

Mehrfach Paralympics-Gold und Weltmeistertitel: Im Rollstuhlsport hat Manuela Schär so viele internationalen Erfolge gefeiert wie kaum eine Zweite. Uns verrät sie, warum sie auch lernen musste, sich über die Siege langfristig zu freuen – und wo ihre Grenzen liegen.

Foto: Gabriel Monet, Swiss Paralympic

2021 haben Sie in Tokyo zweimal Gold und dreimal Silber gewonnen. Wie definieren Sie Erfolg?

Ganz einfach: Erfolg heisst, ein gesetztes Ziel zu erreichen. Es kommt nicht darauf an, um welches Ziel es geht. Es muss nicht immer eine Goldmedaille sein.

Trotzdem, bei Ihnen ist Erfolg mit der Anerkennung von aussen verbunden. Muss das so sein?

Im Leistungssport haben wir das Glück, dass der Erfolg oft mit Anerkennung und Aufmerksamkeit verbunden ist. Der Mensch strebt von Natur aus nach einer gewissen Bestätigung von anderen. Doch ein Ziel, das man im kleinen, persönlichen Rahmen erreicht, ist ebenso wertvoll.

Und macht Erfolg glücklich?

Ja, Erfolg macht im Moment sehr glücklich. Die Frage ist, wie lange das Glück anhält. Das ist auch eine Übungssache. Dazu müssen wir unser Bewusstsein trainieren. Ich finde es schade, wenn man Erfolge vergisst. Wenn ich jeweils ein bestimmtes Ziel erreicht habe, scheint für mich die Welt kurzfristig still zu stehen. Aber ich muss mir klar machen, dass sie sich für alle anderen weiterdreht. Gerade der Leistungssport ist sehr schnelllebig. Mir kommt er vor wie ein Fliessband. Ein Sieg folgt dem andern, ein Athlet dem nächsten. Wichtig ist, bei sich zu bleiben und das eigene Glück nicht von Siegen und Erfolgen abhängig zu machen.

Wie gehen Sie mit Misserfolgen um?

Sie gehören zum Leben. Das habe ich aus meinen Rückschlägen gelernt. In den letzten zwei Jahren musste ich verletzungsbedingt – wegen eines Beinbruchs – eine Pause einlegen. Diese Zeit war für mich sehr schwierig. Es war eine neue Erfahrung zu beobachten, wie andere Athleten erfolgreich durchstarteten, ohne dass ich mich am Wettkampf beteiligten konnte. Es war schwer zu akzeptieren, dass mein Körper diese Erholungsphase brauchte und ich meine Genesung nicht erzwingen kann. Umso mehr, weil ich nicht am Anfang meiner Karriere stehe, sondern eher auf deren Ende zusteuere. Aber das Erleben einer solchen Krise setzte bei mir einen wichtigen Prozess in Gang. Früher oder später hätte ich mich diesen Fragen sowieso stellen müssen. Misserfolg stösst oft Veränderungen an und zwingt uns zu einem Perspektivenwechsel.

Kann man also auch beim Verlieren etwas gewinnen?

Ja – wenn man versucht, das Positive in der Niederlage zu sehen. Oder etwas daraus zu lernen.

Was machen Sie im Winter, wenn keine Strassenläufe stattfinden?

Die Saison endet jeweils Mitte November mit einem Marathon in Japan. Über Weihnachten und Neujahr gönne ich mir eine zweiwöchige Pause, ohne spezifisches Training. Danach beginnt der Aufbau, bis im März wieder ein erstes Rennen ansteht.

Wie oft trainieren Sie im Alltag?

Ich bin noch mit einem 20 Prozent-Pensum angestellt und arbeite an zwei Vormittagen. Die restliche Zeit widme ich ganz dem Sport. In einer Randsportart ist das ein Privileg.

Ein einschneidendes Erlebnis hatten Sie mit 9 Jahren. Die Schaukel, auf der Sie sassen, brach zusammen. Seither sind Sie querschnittgelähmt. Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich hatte keine andere Wahl, als mich mit meinem Schicksal abzufinden. Wer einen solchen Unfall erlebt, gerät in ein Karussell. Auf Operationen folgt die Rehabilitation, anschliessend verschiedene Therapien. Schritt für Schritt entscheidet sich, wie es weitergeht. Am Anfang betritt man ein unbekanntes Land. Denn niemand weiss, was auf einen zukommt. Leider ist es noch heute so, dass die Gesellschaft oft wenig über solche Themen weiss und nicht offen darüber spricht. Es türmen sich viele Fragen auf: Ist man den Rest des Lebens auf Pflege angewiesen? Passt die Wohnung noch? Was ist mit der Schule? Nicht alle Gebäude sind rollstuhlfreundlich. Sechs Monate verbrachte ich im Krankenhaus, davon die Hälfte liegend. Um sein Leben möglichst selbstständig gestalten zu können, ist man auf die Hilfe verschiedener Fachleute angewiesen. Diese Umstellung betraf nicht nur mich, sondern mein ganzes Umfeld. Mit mir musste auch meine Familie umdenken und umplanen.

Gab es Momente der Verzweiflung?

Ja. Vor allem auch für meine Eltern. Obwohl ich selbst keine Kinder habe, kann ich mir vorstellen, dass es kaum etwas Schlimmeres gibt, als wenn das eigene Kind einen so folgenreichen Unfall erlebt.

Sind Sie ein geborener Siegertyp?

Ich hatte einfach das Glück, in einem grossartigen Umfeld aufzuwachsen. Meine Eltern haben sowohl mich als auch meinen Bruder sportlich gefördert. Sie unterstützten unseren Bewegungsdrang und ermöglichten uns sportliche Aktivitäten wie den Turnverein, die Läuferriege und das Skifahren. Auch im Paraplegiker-Zentrum wird Sport und Bewegung grossgeschrieben. Die positiven Auswirkungen auf die mentale Gesundheit und die körperliche Fitness ist für Querschnittgelähmte wichtig. Denn alltägliche Aufgaben nur mit dem Oberkörper zu bewältigen, ist ziemlich anspruchsvoll. Auch auf die Ernährung gilt es zu achten. Wenn die Beinmuskulatur wegfällt, verbrennt man viel weniger Kalorien. Ich genoss es, als ich mich wieder sportlich betätigen konnte. Und ich freute mich, dass ich mich im Paraplegiker-Zentrum in Nottwil einer Gruppe von Rollstuhlsportlern anschliessen konnte. Besonders toll daran war, dass wir zwar alle ähnliche Erfahrungen durchgemacht hatten, aber selten über den Rollstuhl sprachen. Schnell signalisierten mir meine Kolleginnen und Kollegen, dass ich Talent habe.

Ab wann haben Sie voll auf die Karte Spitzensport gesetzt?

Meine Eltern bestanden darauf, dass ich eine Ausbildung mache. So absolvierte ich das KV. Dafür danke ich ihnen heute noch. Wie andere in meinem Alter feierte ich mit Freundinnen und plante Ferien mit ihnen. Ich wollte mein Leben nicht ausschliesslich dem Spitzensport widmen. Meine Resultate an den Paralympics in London 2012 frustrierten mich jedoch sehr. Sie markierten einen Wendpunkt für mich. Danach entschied ich mich, mein Training ernsthaft anzugehen. Das führte zu vielen Veränderungen. Unter anderem begann ich, mit einem neuen Trainer zu arbeiten. Von da an ging es einen weiteren Schritt vorwärts.

Inwiefern beginnt der Erfolg im Kopf?

Das Mentale ist sehr wichtig. Aber man darf es nicht überbewerten. Alle Faktoren müssen zusammenspielen.

«Die Kontinuität und Hingabe zu einem Ziel sind entscheidend für langfristigen Erfolg.»

Gibt es Eigenschaften, die Gewinnerinnen und Gewinner gemeinsam haben?

Auf jeden Fall. Entscheidend ist der Biss, die Hartnäckigkeit. Es mag von aussen so aussehen, als käme der Erfolg über Nacht. Aber das ist kaum je der Fall. Erfolg ist kein Selbstläufer. Er erfordert viel Zeit und Jahre harter Arbeit. Ausserdem geht in unserer Multioptionsgesellschaft oft vergessen, wie wichtig es ist, sich auf eine Sache zu fokussieren und sich voll und ganz dafür einzusetzen. Es ist nicht ratsam, alle zwei bis drei Jahre das Gefühl zu haben, etwas Neues beginnen zu müssen. Die Kontinuität und Hingabe zu einem Ziel sind entscheidend für langfristigen Erfolg.

Dieser klare Zielorientierung zeichnet Sie aus. Welches Ziel peilen Sie als nächstes an?

Ich bin 39 Jahre alt und muss mich als Spitzensportlerin langsam damit auseinandersetzen, wie ich meine Zukunft gestalten will. Mir ist dabei wichtig, eine Aufgabe zu finden, die mich beruflich genauso erfüllt und begeistert wie der Leistungssport. Es ist schon ein seltsamer Gedanke: Im Sport war ich Weltspitze. Es ist kaum möglich, in einem anderen Bereich genauso erfolgreich zu werden. Im Sport kommen Nervenkitzel, Tournee-Feeling und Begegnungen mit anderen Menschen zusammen. Diesen Kick anderswo zu finden, ist anspruchsvoll.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Die Einsicht, dass ich privilegiert bin, führt zu Dankbarkeit. Mir ist bewusst, dass nicht alles selbstverständlich ist. Für alles dankbar zu sein, bereichert das Leben. Ich habe zum Beispiel kürzlich einen Einsatz in einem Tierheim in Thailand absolviert. Das prägt und inspiriert mich für den Rest meines Lebens. Oder ein anderes Beispiel: Letztes Jahr habe ich mir ein E-Mountain-Bike gekauft. Für andere ist das alltäglich. Für mich kommt es einem kleinen Wunder gleich, in der Natur und den Bergen unterwegs sein zu können. Dieses ganz bewusste Leben möchte ich mir bewahren. Dazu gehört auch Demut. Ich erwarte nicht, dass mir alle den roten Teppich ausrollen.

In den sozialen Medien treten Sie – im Gegensatz zu anderen Sportstars – zurückhaltend auf. Wieso?

Erstens sind die sozialen Medien ein Zeiträuber. Zweitens exponiert man sich als Mensch einem unter Umständen grossen anonymen Publikum. Und drittens bin ich nicht auf Sponsorensuche, ich habe langjährige Partner. Das ganze Selbstmarketing ist nicht mein Ding. Ich halte auch nicht gern Vorträge im Rampenlicht. Das ist für mich eine schreckliche Vorstellung. Früher fühlte ich mich Sponsoren gegenüber unter Druck. Doch ich habe gemerkt, dass mich dies zu viele Ressourcen kostet. Ich muss voll und ganz hinter einer Sache stehen können – sonst sage ich «nein danke». Auch Homestorys lehne ich ab. Ich möchte nicht für Tränendrüsen-Stories missbraucht werden. Hingegen mache ich an Podiumsgespräche zu einem guten Thema oder für einen guten Partner mit. Und wenn mir etwas am Herzen liegt, wie der Tierschutz, gebe ich alles.

Ausnahmesportlerin

Manuela Schär (39) blickt auf eine fast 25-jährige Karriere im Rollstuhlsport zurück. Sie hat etliche Weltrekorde aufgestellt und an unzähligen Marathons sowie den Paralympics gesiegt. Nebst dem Sport hat sie eine weitere Leidenschaft: ihren Hund Lui.