CIO Kommentar, Montag, 30. August 2021
In China regt sich gegenwärtig eine interessante gesellschaftliche Debatte um Fragen einer gerechten Umverteilung und der Steuerpolitik. Die staatlichen Massnahmen, um private Unternehmen wieder aus den Kernaufgaben des Staates wie der Bildung oder dem Gesundheitswesen zurückzudrängen, haben am chinesischen Aktienmarkt Spuren hinterlassen. Im letzten Jahrzehnt wurde oft die Einschätzung geäussert, dass China mittlerweile kapitalistischer geworden sei als die USA.
Jetzt gibt Xi Jinping etwas Gegensteuer und stellt klar, dass das chinesische Gesellschaftsmodell auch resolut egalitäre Ziele verfolge. Die masslose Bereicherung der Erfolgreichen in einem «auf Teufel komm raus-Kapitalismus» sei nicht die Vision Chinas.
Gerade die junge Generation leidet offenbar unter einem enormen Leistungsdruck und dem Zwang zum ökonomischen Aufstieg – um jeden Preis. Qualifizierte akademische Berufseinsteiger müssen oft mit 12 Stunden-Arbeitstagen rechnen und mit einer sogenannten Wolfsrudel-Arbeitskultur.
China ist zweifellos wirtschaftlich sehr erfolgreich. Es wird bis 2025 mit einem Pro-Kopf-Einkommen von über 12'536 USD gemäss der Weltbank Definition zu den «Wirtschaften mit hohem Pro-Kopf-Einkommen» gehören. Damit steigt China innerhalb von 50 Jahren von der Dritten in die Erste Welt auf. Dies wurde und wird sehr hart erarbeitet.
Die in den chinesischen sozialen Medien entstandene «Lying-flat-Movement», die «Sich-hinlegen-Bewegung», ist wohl eine Gegenreaktion der Jugend auf den Leistungsdruck und die Erfolgserwartungen der chinesischen Gesellschaft.
Eine der Kernbotschaften der Bewegung lautet: «Kauf dir kein Eigenheim, kauf dir kein Auto, heirate nicht, hab keine Kinder und konsumiere nicht.» Diese Verweigerung zeigt auf, was erfolgreiche und angepasste junge Chinesinnen und Chinesen heute zu leisten haben.
Unsereins im Westen fühlt sich an die Gegenkultur der Hippies, an die Aussteiger-Bewegung der Punks oder an die Anhänger einer radikal ökologischen Lebensweise erinnert. Allerdings brauchen die Jugendlichen in China wesentlich mehr Mut, um zu rebellieren, als heute in Europa oder den USA nötig ist.
Dabei entsteht – was wohl typisch ist für autoritär regierte Länder – eine subtile Art von Humor, der nicht auf offensichtliche Konfrontation mit den Mächtigen geht. Schon im antiken Griechenland entstand die Sage von Diogenes von Sinope, der in einem Fass gewohnt haben soll. Als sich Alexander der Grosse mit ihm unterhalten wollte, soll ihn Diogenes gebeten haben, ihm aus der Sonne zu gehen.
Die gutgemeinten Ratschläge an die chinesische Jugend seitens Xi Jinpings sind sicher etwas verbindlicher und im Kern weniger freundlich gemeint, als die, die Väter ihren rebellischen Kindern mitgeben.
Die Kritik Xi Jinpings zu den negativen Aspekten eines konsum- und spassorientierten Lebensstils nach westlichem Vorbild zeigt aber, dass China vor zentralen gesellschaftspolitischen Fragen steht. Ob «väterliche» Fürsorge diese beantworten kann oder ob die chinesische Jugend eigene neue Wege gehen wird, bleibt offen.
Die chinesische Führung scheint aber zu spüren, dass sie ihre sozialpolitische Ausrichtung anpassen muss, wenn sie eine stärkere Polarisierung der Gesellschaft in arm und reich vermeiden will. So sind Steuern auf Wohneigentum, Kapitalgewinne, Erbschaften und höhere Steuersätze für Topverdiener zu einem Thema geworden.
Naturgemäss haben diese Entwicklungen dem chinesischen Aktienmarkt einen deutlichen Dämpfer versetzt. Dieser hat sich also dieses Jahr tatsächlich etwas «hingelegt». Der chinesische CSI-Index verliert dieses Jahr fast 4%. Im Gegensatz dazu steigt der Schweizer SPI-Index dieses Jahr knapp 20% und der US S&P 500 Aktienindex sogar über 27%.
Auch nach dem Treffen der Zentralbanker in Jackson Hole ändert sich am Ausblick für die US-Geldpolitik wenig und die US-Zinsen am langen Ende gaben sogar etwas nach. Die für die Aktienmärkte günstigen geldpolitischen Rahmenbedingungen bleiben also vorläufig erhalten.
Die Aktienmärkte eröffnen heute in Europa praktisch unverändert. Für die US-Aktienindices wird heute Nachmittag, nach den Gewinnen vom Freitag, ebenfalls eine wenig veränderte Eröffnung erwartet (Stand ca. 13:15, 30.8.2021, Basel Zeit).