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Marktausblick

Ukraine-Krise: Wirtschaftliche Auswirkungen und mehr für Anleger

Aktuelle Einschätzung von unserem CIO Dr. Sandro Merino

Ukraine Flagge
Dr. Sandro Merino, Chief Investment Officer

Russische Invasion in die Ukraine

Am 24. Februar 2022 hat Russland an mehreren Fronten mit dem Überfall auf die Ukraine begonnen. Es ist nun offensichtlich geworden, dass der russische Präsident Wladimir Putin diesen Angriff schon lange Zeit geplant hatte. Diplomatische Gespräche, die im Vorfeld noch stattgefunden hatten, sind spätestens jetzt als ein zynisches und ehrloses Täuschungsmanöver entlarvt. Wer in Putin ein taktisches oder strategisches Genie zu sehen glaubt, vergisst, dass Russland für lange Zeit in künftigen internationalen Beziehungen in den Augen aller demokratischen Rechtsstaaten jede Glaubwürdigkeit und jede Vertrauenswürdigkeit verloren hat. Die bestürzten und sehr scharfen Kommentare des US-Präsidenten, des deutschen Bundeskanzlers, des britischen Premierministers sowie des französischen Präsidenten können kaum zum Ausdruck bringen, wie tief und nachhaltig der gestrige Tag die Sicherheitsordnung Europas verändert hat. 

Die Überlegenheit der russischen Streitkräfte dürfte ihnen erlauben, schon sehr bald überall in der Ukraine punktuell präsent zu sein und strategische Einrichtungen zu kontrollieren. Eine erste Flüchtlingswelle zeichnet sich bereits ab. Ob sich ein organisierter ukrainischer Widerstand bilden wird und ob es zu einer ukrainischen Exilregierung kommen wird, ist derzeit offen. Eine Friedhofsruhe in der Ukraine unter russischer Zwangsverwaltung ist aber heute nur schwer vorstellbar und auch für Russland nicht ohne weiteres erreichbar. Der anfängliche rasche militärische Erfolg Putins könnte sich als trügerisch erweisen. Man muss die Entwicklungen der nächsten Stunden und Tage abwarten, um die militärische Lage bewerten zu können. Die offen ausgesprochene Drohung Putins, dass jedes Land, das mit dem Überfall Russlands interferiert, mit historisch nie dagewesen Konsequenzen rechnen muss, zeigt auf, wie unkalkulierbar und irrsinnig die Gesinnung Putins sich in diesen Tagen manifestiert.

Eskalationspotenzial bleibt erheblich

All die folgenden ökonomischen Einordnungen sind nur dann sinnvoll, wenn die Eskalation nicht in nukleare Dimensionen ausartet. Wie Sir Richard Shirreff (bis 2014 Deputy Supreme Commander Nato) heute erklärte, war eine russische Invasion baltischer Staaten und eine anschliessende nukleare Erpressung gegen die Hilfeleistung der Nato ein häufiges Manöver-Szenario russischer Streitkräfte. Die in der Landzunge Kaliningrad stationierten russischen mobilen SS-26 (Iskander) Raketen können die Städte Kopenhagen, Berlin oder Warschau in wenigen Minuten erreichen und  auslöschen. Sir Shirreff sieht in Putin das heute entfesselte Monster, dass die naive Haltung zu Verteidigungsfragen gegenüber Russland miterschaffen hat.

Scharfe Sanktionen erwartet

Die USA haben gestern weitere Sanktionen gegen russische Banken, Exportbeschränkungen und die Verlegung von 7000 weiteren US-Soldaten nach Deutschland angekündigt. Auch die EU-Staats- und Regierungschefs haben sich gestern Abend auf umfangreiche Massnahmen in den Bereichen Energie, Finanzen und Transport, Exportkontrollen sowie Visabeschränkungen geeinigt. Zum Ausschluss Russlands aus dem Banken-Kommunikationsnetzwerk Swift konnte man sich hingegen bislang nicht durchringen. Die Schweiz verzichtet vorerst auf Sanktionen, prüft aber, wie sie verhindern kann, dass Sanktionen mit Hilfe Schweizer Unternehmen umgangen werden können. 

Ebenfalls zögerlich zeigt sich der Westen auch bezüglich Sanktionen direkt gegen Putin persönlich, die aber in einer weiteren Stufe noch folgen könnten. Wer derart skrupellos und heimtückisch handelt, nimmt keinerlei Rücksicht auf die humanitären Folgen seiner Machtpolitik – auch nicht in Bezug auf das eigene Volk. Putin wäre nicht der erste brutale Diktator, der am Ende zur Rechenschaft gezogen würde. Die Welt wird diese Tage und das beschämende Schauspiel der russischen Führung jedenfalls nie vergessen.

Aber bei weitem nicht alle Bürgerinnen und Bürger Russlands sind in einen hysterischen Freudentaumel gefallen, als der «grosse» Diktator Putin seine militärische Macht demonstrierte. Viele russische Bürgerinnen und Bürger sind entsetzt ob diesem barbarischen Auftritt ihres Präsidenten und viele wissen, dass sie die schweren ökonomischen Lasten tragen werden. Diese Stimmen aus Russland wird man auch künftig hören, auch wenn viele einen hohen Preis bezahlt haben oder bezahlen werden, wenn sie wagen dem schändlichen Treiben ihres Despoten zu widersprechen. Die wenigen russischen Bürgerinnen und Bürger, die in Moskau gegen den Krieg protestieren, beweisen bewundernswerte Zivilcourage.

Die Länder, die schon bald scharfe wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland verhängen werden, stellen gemeinsam etwa die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung dar. Russlands Wirtschaftsleistung ist hingegen kleiner als jene von Italien und sie stellt weniger als 2% der Weltwirtschaftsleistung dar.

Die EU und alle anderen europäischen Rechtsstaaten werden kurzfristig ebenfalls unter den erwarteten Sanktionen spürbar leiden. Alle Länder wirken derzeit jedoch äusserst entschlossen, den Überfall mittelfristig in ein kostspieliges Desaster für Russland zu verwandeln. In Anbetracht der wirtschaftlichen Grössenordnungen und des gemeinsamen Einflusses der USA und der EU kann auch die Energieversorgung sichergestellt werden. Ein kompletter Verzicht auf russische Rohstoffe steht bei der Definition der Sanktionen ebenfalls auf der Tagesordnung. Auch wenn dies wohl zu einem erheblichen wirtschaftlichen Preis geschehen wird, diesen Preis werden alle Partner zur Verteidigung ihrer Grundwerte tragen wollen und tragen können. Aus Sicht der EU und der USA kann nicht toleriert werden, dass sich die russische Aggression auf irgendeiner Ebene lohnen wird. 

Auswirkungen auf Wirtschaft und Finanzmärkte

Aufgrund der begrenzten wirtschaftlichen Bedeutung Russlands und des geschlossenen Auftretens der Allianz gegen Russland werden die Auswirkungen auf das Weltwirtschaftswachstum voraussichtlich sehr begrenzt bleiben. Die Erhöhung von Energie- und Rohstoffpreisen können durch staatliche Ausgleichsmassnahmen (Reduktion von Steuern, Finanzierung von Subventionen) kompensiert werden. Diese Entwicklungen werden die Staatshaushalte, die durch die Pandemie bereits strapaziert wurden, nochmals spürbar belasten. Das Gewicht der Energiekosten ist aber für moderne Industrienationen nur bedingt ein wirklich gewichtiger Faktor in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Entsprechend haben Indikatoren zur Stabilität des Finanzsystems der USA und der Eurozone auch gestern wenig auf die Eskalation in der Ukraine reagiert. Dies im Gegensatz zum signifikanten Stress an den russischen Aktienmärkten und für die russische Währung. Laut einer Analyse von Oxford Economics bedeutet das Szenario der gerade laufenden, breit angelegten Invasion eine Abschwächung des globalen Wirtschaftswachstums um etwa 0,2 bis 0,4 Prozentpunkte. Nimmt man den Fokus von der Ukraine – selbst wenn dies schwer fällt – für einen Moment weg, dann stellt man nach kurzer Analyse fest, dass dieser Krieg, sofern er auf die Ukraine begrenzt bleibt, für die globale Wirtschaftsentwicklung insgesamt nur wenig Einfluss haben kann.

Für die Volkswirtschaften in Europa sind die Auswirkungen zwar spürbarer, sie bleiben aus volkswirtschaftlicher Sicht dennoch begrenzt. Gemäss obengenannter Studie könnte die Eurozone 2022 und 2023 etwa 0,5% an realem Wachstum einbüssen. Dies vor allem auch, weil die hohe Inflation etwas länger anhalten wird. Eine eigentliche Rezession in Europa ist auch aufgrund der robusten Aufholeffekte nach der Pandemie aus heutiger Sicht nicht zu erwarten. Obige ökonomische Zusammenhänge sind wohl auch der Grund, dass wir in Europa weiter entfernte regionale militärische Konflikte verdrängen können, da sie das wirtschaftliche Geschehen in unserem Alltag nicht wirklich spürbar betreffen.

Empfehlungen für Anleger

Jeder Erfahrungswert der vergangenen Jahrzehnte belegt, dass Anleger mit einer breit diversifizierten und sorgfältig umgesetzten Anlagestrategie diese aufgrund eines regionalen militärischen Konfliktes nicht überstürzt aufgeben sollten. Es ist gerade die Stabilität der Institutionen und Volkswirtschaften von Rechtsstaaten, die es erlaubt, diese Verwerfungen an den Märkten auszusitzen. So haben die amerikanischen Aktienindizes gestern im späteren Handelsverlauf sogar bereits ins Plus gedreht. Eine erhöhte Volatilität dürfte uns in den nächsten Tagen erhalten bleiben, aber eine anschliessende substanzielle Erholung über die kommenden Monate ist das wahrscheinlichste Szenario. 

Wir haben in unserer Anlagestrategie die Aktienquote am 23. Februar etwas reduziert. Ausserdem haben wir Anlagefonds, die in geringem Umfang in russische Wertschriften investiert sind, abgestossen. Die Bedeutung russischer Anleihen und Aktien war aber immer im Bereich von deutlich unter einem Prozent unserer gesamten Anlagestrategie. Durch die Definition von Anlageindizes, nach denen sich Finanzprodukte ausrichten, war bisher eine geringe Exposition in russische Wertschriften unvermeidlich. Künftig dürfte sich dies ebenfalls ändern und «Russia-free» Indizes dürften sich in der Eurozone und den USA aufgrund der Sanktionen durchsetzen. 

Obwohl es meine Aufgabe als Chief Investment Officer ist, auch in diesen düsteren Zeiten für eine möglichst optimale Bewirtschaftung der Vermögen unserer Kundinnen und Kunden zu sorgen, geht es in diesen Tagen nicht um die Zehntelprozent-Optimierung von Anlageergebnissen. Es geht in diesen Tagen um nichts weniger als um die Verteidigung unserer rechtstaatlichen Demokratien gegen skrupellose und gewaltbereite Angreifer. In Finanzfragen gerade jetzt Ruhe zu bewahren, unterstützt dieses Ziel aus ökonomischer Sicht.

 

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