CIO Kommentar, Montag, 16. August 2021
Die Taliban haben in kürzester Zeit die faktische Kontrolle über ganz Afghanistan gewonnen. Die Entscheidung Donald Trumps aus Afghanistan vollständig abzuziehen, ist in der US-Bevölkerung zweifellos sehr populär. Joe Biden hat diese Entscheidung von Donald Trump nicht widerrufen und muss einen grossen Teil der Verantwortung für die laufenden Entwicklungen übernehmen. Aus heutiger Sicht war es ein strategischer Fehler vor 20 Jahren Afghanistan militärisch zu besetzen.
Zu unklar waren die Ziele und das Exit Szenario. Dieser heute offensichtlich gewordene strategische Fehlentscheid rechtfertigt aber nicht die Art und Weise, wie sich der Westen von schlecht ausgerüsteten Milizen auf Mopeds und Geländewagen überrumpeln lässt und sich vor seiner freiwillig übernommenen Verantwortung für Afghanistan drückt.
Die bedingungslose Loyalität der Europäer zu den Kriegszielen der USA gegen den fundamentalistischen Terrorismus und das ohrenbetäubende Schweigen Europas zum Entscheid der USA aus Afghanistan abzuziehen, könnten als Verrat an den eigenen Werten und als Moment der Schande in die Geschichte eingehen. Die Parallelen zu Vietnam sind bei genauer Betrachtung nicht wirklich stichhaltig, dennoch erinnern die dramatischen Bilder des Flughafens in Kabul an den Fall Saigons im April 1975. Das heutigen Vietnam erinnert sich an diesen Tag heute als einen Tag der Befreiung. Ich wage es aber zu bezweifeln, ob das afghanische Volk in 20 Jahren die aktuellen Ereignisse als Tage der Befreiung feiern wird.
Inwiefern die improvisiert wirkende Rechtfertigung Joe Bidens legitim ist, dass die US-Kriegsziele in Afghanistan inzwischen erreicht wurden, weil Afghanistan heute keine Basis für Terrorangriffe auf die USA mehr sei, wird die Geschichte zeigen müssen. Es ist auch aus heutiger Sicht ohnehin nicht historisch belegt, dass das afghanische Territorium für den internationalen Terrorismus von zentraler Bedeutung war. All jene, die militärische Abenteuer Europas aus falsch verstandener Loyalität zu den USA schon immer kritisch hinterfragt haben, sehen sich durch das Desaster bestätigt. Wer in Europa politisch die Verantwortung für das Debakel übernimmt, bleibt diffus. Der blosse Fingerzeig auf die USA ist jedenfalls geheuchelt. Immer mehr hat sich Europa zum kraftlosen Junior-Partner der USA ohne faktisches Mitspracherecht entwickelt.
Der Westen hat seine Glaubwürdigkeit bedingungslos in die Hände der Taliban übergeben. Die Frage ist, wie die neuen Herrscher im Land ihre nunmehr kaum eingeschränkte Macht einsetzen werden. Man kann nur hoffen, dass entgegen den durchaus begründeten Befürchtungen, Zurückhaltung und Menschlichkeit auch bei den Taliban überwiegen werden. Aber auch wenn ein Gewaltausbruch hoffentlich ausbleibt, wird die Zivilgesellschaft in Afghanistan von einem Zustand der Hoffnung auf eine demokratische und auch für Frauen offene Gesellschaft, ins islamische Mittelalter mit dem Recht der Scharia zurückgeworfen.
Die Börsen und die Wirtschaft werden kurzfristig nicht merklich von den Ereignissen in Afghanistan beeinflusst werden. Wie stark die Flüchtlingsströme aus Afghanistan anwachsen und wie labil eine Atommacht wie Pakistan auf die Stärkung fundamentalistischer Kräfte reagiert, stellt ebenfalls ein strategisches Risiko dar. Strategisch betrachtet, darf man nicht vergessen, dass China eine Landgrenze mit Afghanistan teilt und bereits diplomatische Signale der Anerkennung und der wirtschaftlichen Kooperation an die Taliban gesandt hat. Somit hat dieses Thema langfristig betrachtet auch in einem Börsenkommentar wie diesem seine Berechtigung. Die Beziehungen zwischen China und dem fundamentalistischen Afghanistan der Taliban werden den Westen künftig interessieren müssen.
Trotz des Debakels muss an die US- und Nato-Soldaten höchsten Respekt gezollt werden. Mehrere Tausend Frauen und Männer haben ihr Leben für ihre Überzeugungen in Afghanistan geopfert oder wurden schwer verwundet. Es liegt an unserer Gesellschaft dies zu respektieren und kraftvoll auszudrücken, wofür wir stehen. Wer für nichts mehr steht, wird von der Geschichte weggedrängt.
Die Aktienmärkte eröffnen heute in Europa mit moderaten Verlusten aber nah bei Rekordständen. Der SMI verliert aktuell etwa 0.65% und die europäischen Aktienindices fast 1%. Für die US-Aktienindices wird heute Nachmittag ebenfalls eine leicht negative Eröffnung erwartet. Für die wirtschaftliche Entwicklung bleibt der Anstieg der Infektionsraten in vielen Ländern ein Risiko. Die Hoffnung auf einen zunehmenden Effekt einer Herdenimmunität hat sich bisher nur bedingt erfüllt. Obwohl die Zahl der Todesfälle deutlich tiefer ist, als in den ersten Wellen der Pandemie, blickt man mit berechtigter Sorge auf den nächsten Winter. Auch auf die Wachstumsprognosen für die Wirtschaft und die Perspektiven für die Finanzmärkte bleibt die Pandemie ein weiterhin belastender Faktor. (Stand ca. 12:45, 16.8.2021 Basel Zeit)