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Bank Cler

«Wir haben oft nur eine Pseudo-Auswahl»

Das günstigste Produkt, die schönste Feriendestination, die beste Versicherung: Die Jagd nach dem Besten kann schön nervenaufreibend sein. Wer sich mit dem Guten zufriedengibt, statt dem Optimum nachzurennen, ist glücklicher – sagt der Wirtschaftsprofessor und Bestsellerautor Mathias Binswanger.

«Cler» wie klar

Bank Cler – bei uns ist der Name Programm. Cler bedeutet einfach, klar und deutlich. In der aktuellen Ausgabe unseres Magazins blu widmen wir uns auf vielfältige Weise dem Thema Klarheit.

Mathias Binswanger, wie antworten Sie, wenn Sie jemand fragt: «Alles klar?»

Routinemässig antworte ich: «Alles klar!» Doch ich bin mir bewusst, dass viele entscheidende Dinge unklar bleiben. Wir wissen nicht, woher wir kommen und wohin wir noch gehen. Wir wissen auch nicht, wozu wir eigentlich auf der Welt sind. Deshalb besteht ein glückliches Leben auch darin, diese Unklarheit zu akzeptieren.

Es gibt also Dinge im Leben, die wir akzeptieren und nicht versuchen sollten, zu vereinfachen?

Alle grundlegenden Dinge haben eine gewisse Komplexität. Glück ist zum Beispiel immer ein Zustand, in dem verschiedene Kräfte im Gleichgewicht sind. Jeder Mensch sehnt sich nach Sicherheit und Freiheit. Doch 100 Prozent Sicherheit machen unglücklich. Und 100 Prozent Freiheit ebenso. Wir wollen also eine Mischung aus Sicherheit und Freiheit. Die eine Formel für Glück gibt es nicht.

In Ihrem Buch «Die Tretmühlen des Glücks» nennen Sie aber schon ein paar Massnahmen, die zum Glück beitragen.

Ja, zum Beispiel machen uns lange Pendlerdistanzen nachweislich unglücklich. Wer also sein Glück steigern will, sollte näher am Arbeitsplatz wohnen. Auch Selbstbeschränkungen helfen: Ich habe mir vor 25 Jahren vorgenommen, nicht mehr fernzusehen. Vielleicht verpasse ich dadurch etwas. Aber langfristig habe ich mehr Zeit für Dinge, die mich glücklicher machen. Ganz ähnlich beschränke ich heute meine tägliche Zeit auf Social Media.

«Wir wählen gerne, solange die Optionen übersichtlich dargestellt sind und es vernünftige Entscheidungskriterien gibt.»
Mathias Binswanger

Seit Jahren kritisieren Sie die «Multioptionsgesellschaft». Was stört Sie daran, eine grosse Auswahl zu haben?

Wir Menschen haben gerne die Wahl. Wenn wir aber zu viele Entscheidungen treffen müssen, ermüdet uns das. Dann wird die Wahl zur Qual. Wir wählen gerne, solange die Optionen übersichtlich dargestellt sind und es vernünftige Entscheidungskriterien gibt. Ausserdem braucht man ausreichend Zeit für die Auswahl. Wenn ich unter Druck entscheiden muss und den Überblick verliere, macht die Wahlfreiheit keine Freude mehr.

Das Internet verspricht Transparenz. Gewinnen wir mit Online-Shopping mehr Klarheit?

Nein, der Online-Handel verschärft die Qual der Wahl noch. Wir können heute global einkaufen. Und uns stehen mehr Möglichkeiten offen denn je. Zwar gibt es unzählige Vergleichsportale, die uns helfen sollen, eine vernünftige Auswahl zu treffen. Aber es ist leicht erkennbar, wohin das führt. Ich kann zwar jedes Jahr die «billigste» Krankenkasse auswählen, aber diese erhält meist schlechte Bewertungen. Entscheide ich mich nun für eine besser bewertete Lösung, bin ich mir nicht sicher, ob ich mich auf diese Bewertung verlassen kann. Darum schaue ich auf anderen Vergleichsplattformen nach. Am Ende drehe ich mich noch mehr um die Preise als zuvor und verbringe noch mehr Zeit mit der Angebotssuche. Ich weiss aber immer noch nicht, welches die geeignete Krankenkasse für mich ist.

«Wir haben in unserer Gesellschaft die Grenze überschritten, wo Auswahl noch Spass macht. Zudem ist die Vielfalt in unseren Supermärkten oft nur eine Pseudovielfalt.»
Mathias Binswanger

Wo liegt die Grenze zwischen Entscheidungsfreude und Überforderung?

Es gibt ein Optimum. Das haben Psychologen beispielsweise anhand eines Schokoladenexperiments untersucht. Eine Versuchsgruppe bekam sechs Sorten zur Auswahl, die andere 30. Wer sechs Sorten zur Auswahl hatte, war deutlich zufriedener als die anderen. In der Regel sind fünf bis zehn Sorten ideal. Bei 30 Optionen fühlt man sich auf jeden Fall überfordert. Wir haben in unserer Gesellschaft die Grenze überschritten, wo Auswahl noch Spass macht. Zudem ist die Vielfalt in unseren Supermärkten oft nur eine Pseudovielfalt. Sie dient dazu, den Verkauf anzukurbeln.

Nennen Sie uns ein Beispiel dafür.

Im Lebensmittelregal entdecken wir immer wieder neue Varianten von Produkten, die im Grunde identisch sind. So gibt es unzählige Arten von Gebäck – aber darin steckt dasselbe. Denn die Vielfalt der Getreidesorten ist stark zurückgegangen. Viele Verkaufsstrategien erzeugen also eine künstliche Vielfalt, die keinen wirklichen Mehrwert bietet.

Um sich von der Konkurrenz abzuheben, muss ein Anbieter doch immer wieder etwas Neues erfinden – und damit werben!

Das ist der «Wachstumszwang», den ich in einem Buch beschreibe. Unsere Wirtschaft funktioniert nur erfolgreich, wenn unsere Wirtschaft wächst. Dazu muss auch unser Konsum wachsen. Das ist besonders schwierig in Ländern wie der Schweiz, wo die Menschen bereits alles haben, was sie brauchen. Hier müssen die Produzenten aktiv dafür sorgen, dass die Menschen wirklich von Jahr zu Jahr mehr konsumieren. Aus diesem Grund kommen jedes Jahr neue Smartphone-Modelle auf den Markt. Die Anbieter wünschen sich, dass wir nicht länger als ein Jahr mit unserem Smartphone zufrieden sind.

Sie sprechen vom «Wachstumszwang»: Wie wäre es, wenn unsere Wirtschaft qualitativ statt quantitativ wachsen würde?

Das wäre wünschenswert. Grundsätzlich wächst die Wirtschaft, wenn wir entweder die Qualität der Güter und Dienstleistungen verbessern oder mehr produzieren. In der Realität haben wir eine Mischung aus beidem. Anbieter versuchen, ihre Güter qualitativ zu verbessern, aber mit dem Hintergedanken, mehr davon zu verkaufen. Der Unterschied ist kaum messbar. Ein Beispiel: Warum ist das Smartphone von 2024 teurer als das von 2023? Wenn es mehr Speicherkapazität und mehr Funktionen hat, ist das ein qualitatives Wachstum. Vielleicht wollte der Hersteller aber nur einen höheren Marktpreis durchsetzen. Dann müsste man die Preissteigerung als Inflation ausweisen. Wie hoch ist also das reale Wirtschaftswachstum? Die Zahlen, die uns das Bundesamt für Statistik zum Wirtschaftswachstum und zur Inflation liefert, sind nur Schätzungen.

Obwohl es sich um eine Schätzung handelt, gibt das Bundesamt für Statistik das Wirtschaftswachstum bis auf eine Nachkommastelle an.

Ja, aber das Bundesamt korrigiert die Zahlen später mehrfach. Nach zwei oder drei Jahren lässt man diese Zahlen dann ruhen. Sie gelten als «richtig». Das heisst aber einfach, dass ab diesem Zeitpunkt keine Revisionen mehr erfolgen. Es ist eine Pseudogenauigkeit, so, wie uns eine Pseudovielfalt von Angeboten umgibt.

«Wir müssen weg von der Angst, etwas zu verpassen. Sie macht uns nur unglücklich.»
Mathias Binswanger

Mit Social Media kommen noch mehr Angebote auf uns zu. Die Angst, etwas zu verpassen – «Fear of missing out», kurz FOMO –, fordert viele heraus. Wie sollte man damit umgehen?

Seit jeher verpassen Menschen immer wieder etwas. Wir können nicht alles haben und erleben. Einige Menschen versuchen, immer alles zu optimieren. Andere sagen sich: «Das ist gut genug, solange ich damit zufrieden bin.» Der zweite Menschentyp ist meist der glücklichere, weil das ständige Optimieren aussichtslos ist. Es ist wie bei einem grossen Buffet: Während ich mich auf die Salate konzentriere, werden die anderen Speisen schon abgetragen oder nachgefüllt. Deshalb ist es schwierig, das Beste zu wählen. Der Entscheid, der eben noch optimal war, ist schon wieder suboptimal. Deshalb stresst es uns nur, wenn wir vom Mobilfunkanbieter bis zur Krankenkasse immer dem Optimum hinterherrennen. Wir müssen weg von der Angst, etwas zu verpassen. Sie macht uns nur unglücklich.

Die künstliche Intelligenz (KI) beantwortet uns scheinbar jede Frage mit Leichtigkeit. Vereinfacht uns das die Entscheidungsfindung?

Nein. Die grösste Gefahr der KI besteht darin, dass wir nicht mehr selbst denken, weil wir die KI ja alles fragen können. Aber KI mischt nur das auf, was schon da ist. So entstehen keine Innovationen mehr. Im Extremfall wird KI zu einem sich selbst fütternden System, das Pseudoneuerungen und Bürokratie produziert.

Erklären Sie uns, weshalb die KI für Bürokratie sorgt – statt für Klarheit.

Die KI basiert auf Unmengen von Daten. Und mit Sensoren, Kameras und Mikrofonen können wir in Echtzeit immer mehr Daten sammeln. Das ist eine fantastische Möglichkeit, um die Bürokratie noch weiter auszubauen. Denn wir versuchen, jeden Prozess im Detail zu optimieren. Dies schafft eine neue Komplexität, die wiederum nach noch mehr KI ruft. So bauen wir unbewusst das Controlling aus – statt Innovationen auszuhecken. Neue Unklarheiten entstehen. Oder vereinfacht gesagt: «Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.»

Ökonom des Glücks

Mathias Binswanger ist Wirtschaftsprofessor an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Er hat mehrere Bücher geschrieben wie etwa «Die Tretmühlen des Glücks» und zuletzt «Die Verselbstständigung des Kapitalismus – wie KI Menschen und Wirtschaft steuert und für mehr Bürokratie sorgt». Im Ranking der «NZZ» figuriert er regelmässig unter den Top Ten der einflussreichsten Ökonomen.

Mehr zum Thema Klarheit im Magazin «blu».